von Dr. Stefan Hößl
Am 29. Juni 2024 verabschiedete die Verbandsvertretung des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region einstimmig die Erklärung ‚Antisemitismus in Köln widersprechen!‘ (https://www.kirche-koeln.de/wp-content/uploads/2024/06/Erklaerung-Antisemitismus-VV-29.6.2024.pdf). Hintergrund war die Veröffentlichung des neuen Jahresberichts der Kölner Meldestelle zu antisemitischen Vorfällen, in dem sich ein deutlicher Anstieg dokumentiert – insbesondere im Nachgang zum terroristischen Überfall der islamistischen HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023. [1] Zitiert wird Bettina Levy, die im Bericht der Meldestelle als Vorstandsmitglied der Synagogen-Gemeinde Köln auf die überaus realen Bedrohungen von Jüdinnen und Juden in Köln eingeht. In ihrer Erklärung macht die Verbandsvertretung sehr deutlich, dass Derartiges nie akzeptiert werden darf und dass es ein Skandal ist, wenn Jüdinnen und Juden sich fragen müssen, ob sie in Köln noch zuhause sind.
Am Ende der Erklärung steht das Plädoyer, Jüdinnen und Juden ernst zu nehmen und ihnen zuzuhören, wenn sie von Erfahrungen mit antisemitischer Adressierung, Ausgrenzung und Gewalt berichten, sowie sich solidarisch zu positionieren und Handlungsstrategien gegen Antisemitismus einzuüben. Wie die EKD (2017: 3) (https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/2017_Antisemitismus_WEB.pdf) betont auch die Verbandsvertretung: „Der Widerspruch gegen Antisemitismus ist nicht nur die Sache einiger weniger, sondern eine Verantwortung aller Christinnen und Christen.“
In diesem kurzen Text wird auf vieles eingegangen, was wichtig ist: Forschungsprojekte zu den Erfahrungen von Jüdinnen (vgl. u.a. Bernstein 2020) machen deutlich, dass Erlebnisse mit Antisemitismus häufig bagatellisiert, relativiert oder ignoriert werden – zuhören, ernst nehmen, empathisch sein: das sollte doch eigentlich selbstverständlich sein…
Liest man die Erzählungen von Interviewten aufmerksam, wird deutlich, dass das Mit-Erlebtem-alleingelassen-Werden für viele eine äußerst negative Dauer-/Belastung darstellt, die manchmal als schlimmer bewertet wird, als die Antisemitismuserfahrung an sich; dass Freund*innen schweigen, dass Lehrkräfte wegschauen, dass Nachbar*innen so tun, als hätte man nichts gesehen oder gehört. Solidarisch sein, Verantwortung übernehmen, sich zu überlegen, was man in der Situation tun kann: das sollte doch eigentlich selbstverständlich sein…
Antisemitismus als Bedrohung für Demokratie
Nicht zuletzt, weil antisemische Judenbilder ihren Ursprung in den Ablösungsprozessen des noch jungen Christentums vom Judentum haben, sind Christ*innen immer wieder auf´s Neue gefordert, Verantwortung zu übernehmen und Widerspruch gegenüber jedem Antisemitismus zu formulieren. Aber wie kann solch ein Widerspruch denn konkret aussehen? Wer erkennt eigentlich die Erscheinungsformen des Antisemitismus, um darauf aufbauend Widerspruch artikulieren zu können? Und ist Antisemitismus nicht ein antidemokratisches Phänomen neben anderen? Müssen wir die aktuellen Herausforderungen und Bedrohungen eines respektvollen Zusammenlebens in der Migrationsgesellschaft, für Demokratie nicht zusammendenken? Blenden wir Rassismus, Homo- und Transfeindlichkeit und Sexismus nicht illegitim aus, wenn wir auf Antisemitismus fokussieren? Auch damit machen Menschen in Köln und darüber hinaus ja überaus reale Negativerfahrungen. In der Schaafenstraße, die als Schutzraum gilt, kommt es immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen auf queere Menschen, Kölner Rom*nja berichten von massiven Ausgrenzungen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt … ganz zu schweigen vom Zuspruch, den Politiker*innen mit antimuslimischen, Holocaust-relativierenden, rechtsextremen Positionen bei Wahlen erhalten. Müssen wir das nicht alles zusammendenken und doch eher auf Fragen fokussieren, wie wir dem Ganzen alle gemeinsam entgegenarbeiten, wie wir starke Allianzen bilden und wie wir uns solidarisch füreinander einsetzen können?
sowohl-als-auch & die Unikalität des Antisemitismus
Seit Langem verweisen sozialwissenschaftliche Untersuchungen auf Interdependenzen bei antidemokratischen Haltungen. Als empirisch gesichert ist bspw. der Befund zu betrachten, dass Menschen, die rassistisch denken, auch weit höhere Zustimmungswerte bspw. bei Sexismus oder bei positiven Grundhaltungen bzgl. völkischer Wir-Gemeinschaftsvorstellungen aufweisen. Auf der anderen Seite gibt es – Stichwort ‚Intersektionalität‘ – immer wieder Verschränkungen unterschiedlicher Unterdrückungsmechanismen – eine Schwarze [2] lesbische Muslima kann sich in Köln gleichzeitig mit verschiedenen Dimensionen des Rassismus, mit Queerfeindlichkeit und Sexismus konfrontiert sehen. Auch z.B. Frauen, die aus der ehemaligen Sowjetunion als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland migrierten, können in vielfältiger Weise von derartigen Überschneidungen berichten…
Ja: sowohl-als-auch. Demokratie ist in Gefahr – und die aktuellen Herausforderungen durch autoritäres Denken, durch Rechtsextremismus und Islamismus, durch Rassismus, Antisemitismus, Homo-/Transfeindlichkeit etc. zusammen im Blick zu behalten, zusammen zu denken und solidarischen Denk- und Umgangsweisen/Allianzen als etwas ganz Wesentlichem hinsichtlich eines respektvollen Zusammenlebens einen besonderen Stellenwert beizumessen, ist hochbedeutsam. Dazu gehört immer auch, Diversität als Normalfall anzuerkennen, zu fördern und auszuleben.
Dennoch kann ein solches Zusammendenken Gefahr laufen, die Besonderheiten der jeweiligen Phänomene, ihre Eigenlogiken, ihre Spezifika ein kleineres oder größeres stückweit aus dem Blick zu verlieren – und das ist beim Antisemitismus besonders der Fall: In „Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“, einer der wichtigsten Publikationen der Antisemitismusforschung in den letzten Jahrzehnten, bringen Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz (2013: 59) das zum Ausdruck, wenn sie festhalten, dass Antisemitismus „kein Vorurteilssystem unter vielen, sondern aufgrund seiner Verwurzelung in ein moralisches und konzeptuelles Weltdeutungssystem, das so bei keiner anderen Form der gruppenorientierten Menschenfeindschaft existiert, unikal[, also einzigartig] ist.“ In anderen Worten: Der moderne Antisemitismus ist ein Erklärungsmodell für Welt und über die antisemitischen Gegenbilder ein tief im kollektiven Wissen unserer Gesellschaft verankerter Zugang für die Bestimmung dessen, wie die Welt (vermeintlich) funktioniert.
Es geht bei ihm nicht nur um eine Feindschaft und um Vorurteile gegenüber Jüdinnen und Juden, sondern letzten Endes fokussiert er „auf das (vermeintlich) ultimative Böse in der Welt“ (ebd.: 59f.) – das es entsprechend der inneren Logik des Antisemitismus zu vernichten gilt. Antisemitismus hat, besser: antisemitische Feind-/Fremdbilder haben in elementarer Weise mit Selbstbildern zu tun – wenn man das Böse in der Welt bekämpft, ist man auf der Seite ‚der Guten‘. Antisemitismus erfüllt daneben zahlreiche weitere Funktionen und wirkt damit identitätsstiftend: Antisemitismus liefert einfache Erklärungen für komplexe Zusammenhänge, gibt Orientierung und Sicherheit, entlastet und ermöglicht die Aufwertung der eigenen Person und die der nationalen/religiösen ‚Wir-Gemeinschaft‘, der man sich zuordnet. Historisch betrachtet ist Antisemitismus mit seinen Funktionen für Welterklärung sowie individuelle und kollektive Identität einzigartig.
Auch wenn Antisemitismus im Letzten immer auf die Vernichtung von Jüdinnen und Juden bzw. des Jüdischen ausgerichtet ist, so beziehen sich nicht alle Erscheinungsformen auf ‚Juden‘. Es haben sich zahlreiche Formen einer Umwegkommunikation etabliert, die es zu erkennen gilt: über ‚die Rotschilds‘, ‚die US-amerikanische Ostküste‘ als Chiffre für den weltweiten Turbokapitalismus u.v.m. Die gegenwärtig dominante Erscheinungsform des Antisemitismus ist die israelbezogene, d.h. in den meisten Fällen, dass die altbekannten antisemitischen Bilder reaktualisiert werden, wobei sich keine Referenz mehr auf ‚die Juden‘ findet; stattdessen ist dann von ‚Israel‘ oder ‚den Zionisten‘ die Rede.
„…eine Verantwortung aller…“
Vor dem Hintergrund des Skizzierten ist die Fokussierung der Verbandsvertretung und ihre Positionierung richtig und wichtig – aber richtige und wichtige Erklärungen sind erst dann wirklich glaubhaft und ernst zu nehmen, wenn sie mit realen Konsequenzen verbunden sind. Im Dokument steht der Satz: „Noch stärker als bisher müssen wir […] angemessene Handlungsstrategien gegen Antisemitismus erproben“ – und hier stellt sich natürlich die Frage nach dem WIE. Um Antisemitismus begegnen zu können, ist es notwendig, ihn als solchen – auch in seinen unterschiedlichen Artikulationsweisen – zu erkennen; und überhaupt: Wie kann Widerspruch, wie können die Handlungsstrategien dann ganz konkret aussehen? Wann sind sie angemessen? Diese Fragen müssen von unterschiedlichen Stellen aufgegriffen und bearbeitet werden. Die Melanchthon-Akademie trägt als Bildungswerk der Evangelischen Kirche in Köln und Region ihren Teil hierzu bei: Seit Juli 2024 hält sie kostenfreie Angebote für Kleingruppen in Gemeinden vor, die flexibel gebucht werden können. In nähern sich die Teilnehmenden dem Phänomen ‚Antisemitismus‘ (Antisemitismus-Workshop) und überlegen auf der Basis von Erzählungen junger Jüdinnen und Juden zu Erlebtem, wie solidarische Positionierungen und wie Handlungsstrategien gegen Antisemitismus aussehen können. Es wird kein Vorwissen benötigt, um teilzunehmen; der Workshop ist einsteiger*innenfreundlich und es ist viel Zeit für Gespräche, Fragen und Diskussionen eingeplant. Dass dabei immer auch die Existenz anderer demokratiegefährdender Phänomene mitreflektiert wird – auch wenn der Fokus auf Antisemitismus gerichtet ist –, ist selbstverständlich.
Anmerkungen:
[1] Diese Zunahme ist nicht auf Köln beschränkt. Darauf verweisen insb. die ausgewiesenen Zahlen im Jahresbericht 2023 des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS 2024: 36ff.). [https://www.report-antisemitism.de/documents/25-06-24_RIAS_Bund_Jahresbericht_2023.pdf]
[2] „Schwarz wird großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich um ein konstruiertes Zuordnungsmuster handelt, und keine reelle „Eigenschaft“, die auf die Farbe der Haut zurückzuführen ist“ (ISD 2013). [https://isdonline.de/uber-schwarze-menschen-in-deutschland-berichten/]